Über die Enttarnung des schlanken Sumo-Ringers
oder
Wie kann Gegenöffentlichkeit wirklich werden ?
Diskussionsbeitrag
Kulturkonferenz
Gegenöffentlichkeit 23.04.2004
Gegenöffentlichkeit ist notwendig, d.h. sie ist
zwingend erforderlich, um die Not der veröffent-lichten Meinung zu
wenden. Gegenöffentlichkeit ist
zugleich möglich, d.h.
sie kann aufgrund vorhandener oder noch zu schaffender Bedingungen
existieren.
Darüber, denke ich, gibt es in diesem Kreis keine
Meinungsverschiedenheit.
So ergibt sich denn die Frage, wie wird Gegenöffentlichkeit wirklich, d.h. wodurch ,
auf wel-chem Wege wird sie gesellschaftlich wirkende Realität ?
Bevor ich Anmerkungen und Vorschläge dazu
unterbreiten, möchte ich versuchen, das zu lö-sende Problem möglichst
genau
fixieren.
Kapitalismus und die ihm gemäße
Medienöffentlichkeit - das ist
bekanntlich die permanente Erzeugung falschen Bewußtseins , die
Verschleierung
des Seins durch den Schein. Gegenöf-fentlichkeit muß also darauf
zielen,
richtiges Bewußtsein zu erzeugen, d.h. den Schein zerstö-ren, um das
Sein
erkennen zu können. Wie groß die zu lösende Aufgabe nach zwei
Jahrzehn-ten
neoliberaler Durchtränkung und Vergiftung der öffentlichen Meinung ist,
das
wird sicht-bar ist, wenn man z.B. einmal im eigenen Bekannten- und
Kollegenkreis prüft, wieweit das Orwellsche Neusprech akzeptiert ist :
Militärschläge sind Friedenspolitik; getötete Zivilisten sind
Kollateralschäden
, die Minimierung öffentlicher Daseinsvorsorge ist Sozialreform ;
zu-sätzliche
Kosten für Krankenversicherte bei gleichzeitiger Verschlechterung der
Versorgungs-qualität heißt Gesundheitsreform; die schrittweise
Abschaffung der
solidarischen Altersvor-sorge bis hin zur staatlichen Alimentation
unterhalb
der Armutsgrenze heißt Rentenreform ;
das Arbeitsamt heißt Agentur, die Arbeitslosen heißen Kunden,
Ratsuchende oder schlicht brachliegendes Humankapital; Reiche sind
Besserverdienende; die Abmagerung der Arbeits-losenhilfe unter das
Sozialhilfeniveau heißt Arbeitslosengeld Zwo; der Kapitalist heißt
Arbeit-geber
und der Ausgebeutete Arbeitnehmer; die Veruntreuerin des
DDR-Volksvermögens
heißt Treuhandanstalt, der Nachfolger und Insolvenznutznießer heißt
Bundesanstalt für ver-einigungsbedingte Sonderaufgaben usw. usf .
Klar und unmissverständlich muß man sagen :
Die
herrschende Politik und die ihr gemäße Medienöffentlichkeit ist dazu
da, dass
das, was sich hinter dem Rücken der Menschen (aber durch ihr Tun, durch
ihr
Verhalten!) an Verhältnissen herstellt, nachträglich als von
vornhe-rein so
geplant darzustellen und als vernünftig erscheinen zu lassen. Verborgen
soll
bleiben: Diese Politik und die dazu gehörende Medienöffentlichkeit
lenken von
den wirklichen Ver-hältnissen, von ihren Ursachen, von den tatsächlich
notwendigen Reformen ab, erklären sie nicht . Regierungspolitiker und
konservative Opposition lügen uns im Zusammenwirken mit vielen Medien
die Hucke
voll.
Es ist deshalb notwendig – und m.E. für Gegenöffentlichkeit konstitutiv - die
veröffentlichte Meinung als kapitalistische Funktion demaskieren. Wenn
wir eine
Veränderung der kapita-listischen Verhältnisse überhaupt und als Teil
davon in
den Medien wollen, dann dürfen wir uns von ihren Verteidigern nicht ins
Bockshorn jagen lassen. Dabei ist zu bedenken : Die (potentiellen)
Gegenöffentlichkeits-Akteure stecken momentan in einer Krise. Noch gibt
es
Zersplitterung unter ihren schon aktiven und den (noch „nur“ )
potentiellen
Akteuren . Ich möchte deshalb ganz am Beginn dafür plädieren: Streit
ist
notwendig, streiten wir ordentlich miteinander! Aber nicht um den
anderen
niederzukämpfen, sondern um Einsichten zu ge-winnen.
Im KERN lautet die zu lösende Aufgabem.E. :
Wie
können wir gemeinsam die Vorherrschaft neoliberaler
Medienöffentlichkeit
durchbrechen ?
Wir haben keinen Springer-Verlag, keine
BLÖD-Zeitung,
keine Leitartikler, keine Talkshow-Moderatoren, keine Chefredakteure in
Funk
und Fernsehen.
Wir haben „nur“ die Vernunft, um die
Verhältnisse
kritisch zu prüfen, die Erfahrungen richtig zu beurteilen und so
(letztlich!)
kollektiv erfolgreich handeln zu können.
Meines Erachtens kommen wir deshalb auch nur
voran,
wenn wir grundsätzliche Überlegun-gen nicht scheuen. Es gibt ein
Vorbild für
das , was ich meine: Parsifal und der sündige Kö-nig. Wir erinnern uns:
der
alte König und Bewahrer des Gralsgeheimnisses (also der Macht!) hat
eine
rätselhafte Krankheit. Er selbst und alles um ihn herum war gelähmt,
zerfiel,
verende-te ,zerbröckelte. Und Parsifal stellte ohne Rücksicht die
prinzipielle
Kernfrage: „Wo ist der Gral?“ Lähmungen enden, Flüsse fließen, Blumen
blühen.
Diese wenigen Worte zielten direkt ins Zentrum, keiner hatte bisher
daran gedacht
und / oder gewagt , sie zu stellen.
Das heißt für unser Thema : Eine andere
Öffentlichkeit wird nur Wirklichkeit, wenn wir die Kraft und den Mut
haben, die
Prinzip-Frage zu stellen, die System-Frage zu stellen. Sonst wird
unsere
Gesellschaft weiter den Weg der neoliberalen Verderbnis und Zerstörung
des
sozialen Zusammenhalts gehen. Solange die Fetische der kapitalistischen
Verhältnisse unbe-rührt bleiben, steht nicht die Machbarkeit sozialer
Alternativen, sondern die Finanzierbarkeit des Vorhandenen auf der
Tagesordnung. Für die Konstituierung einer Gegenöffentlichkeit brauchen wir weder unverbindliche Systemschelte noch
lauwarm-wendige Anerkennung der „Sachzwänge“. Gegenöffentlichkeit und
Gegenmacht ist m.E. nicht zu erreichen, wenn wir eine gute Verwalterin
der
kapitalistischen Geschäftsordnung sein wollen.
Notwendig ist ein klarer Hinweis auf die
einzuschlagende Richtung. Nicht bittende Demut oder liebevoller Diskurs
führt
uns näher ans Ziel einer Gegenöffentlichkeit und Gegenmacht, sondern
die
entschieden begründete Möglichkeit und Notwendigkeit der Alternative.
Gegenöffentlichkeit und Gegenmacht müssen im
Alltag
mit ihren Alternativen ansetzen, aber keine punktuelle Reparatur der
Zustände
sein, sondern helfen, die Logik der Konkurrenz, der Unterwerfung, der
Entfremdung zu überwinden. Der Interessengegensatz zwischen Kapital und
Arbeit
muss politisiert und nicht verkleistert werden. Jetzt, wo das Kapital
seine sozial-staatliche
Maske abgenommen hat, müssen auch wir endlich Klartext sprechen.
Natürlich ist es gut und wichtig, Menschen
auf die
Straße und insofern auf die Waagschale des politischen
Kräfteverhältnisses zu
bringen. Noch wichtiger aber ist es, auch auf ihre Ge-danken und
Gefühle
einzuwirken. Denn : Der große und anhaltende Konflikt zur Eindäm-mung
der
neoliberalen Medienöffentlichkeit und für die Errichtung einer
Gegenöffentlichkeit ist zum einen außerparlamentarisch und zum andern
wird er
nur wirklich sein, wenn er von klaren Gedanken und starken Gefühlen
getragen
ist. Beides ist erforderlich, um den unaus-weichlich erforderlichen
„langen
Atem“ zu haben.
Um überzeugen zu können, bedarf es der
konzeptionell
durchdachten Perspektive bzw. der perspektivisch angelegten Konzeption;
der
lange Atem zum Umbau der Marktradikalität des Öffentlichkeits-,
Politik- und
Gesellschaftsmodells. Helfen könnten uns dabei, zwei Erinne-rungen
wieder
aufzufrischen : zum einen daran, was Ziele und Interessen arbeitenden
Men-schen
nach der Zerschlagung des Faschismus waren und zum anderen daran, was
demokrati-sche Bewegungen in der alten Bundesrepublik unter der für sie
günstigen Bedingung der DDR-Konkurrenz an demokratischen Möglichkeiten
auch in
den Medien erkämpft hatten.
Die aktuelle soziale und politische Situation
in der
Bundesrepublik, die sehr wichtig ist für unsere Chancen auf die
Schaffung von
Gegenöffentlichkeit, läßt sich m.E. am besten erfassen mit der fragilen
Dialektik des schon-nicht-mehr und
zugleich des aber-noch-nicht. Große
Demonstrationen und kleine Aktionen in Deutschland, aber auch anderswo
in
Europa sowie Wahlen in Spanien zeigen, das Volk ist nicht die genügsame
Herde,
die fügsame Herde, die Manipuliermasse der Polit-Werbe-Industrie. Das
sollte
uns Hoffnung machen, tatsächlich eine Gegenöffentlichkeit zu erschaffen. Hoffnung ist
ja nicht die Gewißheit, dass es gut ausgeht. Hoffnung ist die
Gewißheit, dass
das eigene Tun Sinn macht. Ein altes, uns gut bekanntes Lied enthält
die Zeile:
„...Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!
So gesehen ist klar: Gegenöffentlichkeit ist keine Sache für
exklusive Zirkel, sie ist nicht elitär zu schaffen und sie darf nicht
in die
Gefahr geraten, exklusive Züge anzunehmen.
Sie ist nur als Angelegenheit breiter Massen zu haben. Und klar
ist m.E.
auch, Gegenöffentlichkeit
braucht Strukturen, wir müssen Netzwerke herstellen und nutzen, aber
ob aus den Notwendigkeiten und Möglichkeiten für Gegenöffentlichkeit eine Wirklichkeit wird, das
hängt ab von Inhalten , die wir transportieren.
Vor diesem Hintergrund erfordert die
sukzessive
Schaffung einer Gegenöffentlichkeit von uns m.E. die Antwort auf zwei Fragen :
1.
Wie
gelingt es, die herrschende veröffentlichte Meinung zu bloßzustellen ?
Was ist
zu tun, um Herz und Kopf der „einfachen Leute“ zu erreichen,
denen die „große Politik“ weithin egal ist, die aber
wegen ihrer Wirkungen auf den Alltag immer schlechter leben ?
2.
Wie
schaffen wir es , nicht den politischen und geistigen Vorgaben der
Mächtigen
und Regierenden hinterherzulaufen, nicht die falschen Fragen der
anderen zu
beantworten ?
Den
geneigten Leser möchte ich an dieser Stelle um Verzeihung bitten,
wenn’s nun
ein wenig theoretisch wird. Aber : Ein Gegen-Modell, eine
Gegen-Öffentlichkeit,
eine Gegen-Macht und eine Strategie dafür ist ohne Theorie nicht
möglich.
Zur ersten Frage:
Wie gelingt
es, die herrschende veröffentlichte Meinung bloßzustellen
? Was ist zu tun, um Herz und Kopf der
„einfachen Leute“ zu erreichen, denen
die „große Politik“ weithin egal ist, die aber wegen ihrer Wirkungen
auf den
Alltag immer schlechter leben ?
Gegenöffentlichkeit darf sich nicht auf
Medienkritik und angestrebte Veränderung von Medien reduzieren.
Vielmehr muß
immer (und oft auch zuerst!) das Grundsätzliche gesagt werden: Medien sind so, wie sie sind, infolge der
gegenwärtigen Ausgestaltung des Kapitalismus. Wer eine andere
Medienöffentlichkeit will, muss diesen Verhältnissen durch eine
dauerhafte und
überzeugende Kritik die Legitimation entziehen. Wer z.B. ernsthaft die
Arbeitslosigkeit
sen-ken will, der muss zuerst dafür sorgen, dass die Argumente der
Kapitallogik
a priori als ver-dächtig, weil menschen(-rechts und -würde)feindlich
erkannt
und bewertet werden. Viele den-ken das, sagen es aber nicht. Sie haben
Sorge,
von der veröffentlichten Meinung in eine ganz bestimmte Ecke gestellt
zu
werfen. Wir brauchen aber den Alarmschrei der Konservativen „Vorsicht, die Linken wollen die
Gesellschaft verändern !“ nicht zu fürchten und wir brau-chen gleich
gar nicht
vorauseilenden Gehorsam zu üben . Denn die, die so rufen, verändern die
Gesellschaft seit langem immer wieder zu ihren Gunsten und zu unseren
Ungunsten. Wir sollten dazu einfach sagen: Das ist die Methode des
Diebes . Er
ruft :“Haltet den Dieb!“
Überhaupt geht es generell darum, die Lügen
der
Politik und das Mitspielen, ja Initiieren der Medien zu entlarven, wenn
wir uns
mit der Wirkungsmacht der herrschenden Ideen und der
Widerspruchserfassung und
–verarbeitung der vielen einfachen Lohnabhängigen zu befassen.
Im Mittelpunkt sollte die kontinuierliche und
vielgestaltige Entlarvung der zwei Hauptlügen stehen:
·
ALLES
MUSS SICH RECHNEN
·
ES
GIBT KEINE ALTERNATIVE
Davon leiten sich alle weiteren Lügen ab, 6
Beispiele:.
1. Politiker sagen: „Wir wollen doch nur Euer
Bestes
!“ Im Kern heißt das aber : Wir langen jetzt noch tiefer, sozusagen bis
auf den
Grund, in Eure Taschen. Das , was wir da rausholen, muss reichen, die
Reichen
zu bereichern. „Wir wollen doch nur Euer Bestes!“ heißt also:
So-zialhilfeempfänger, gebt eure Almosen her , den Bossen reicht ihr
Geld nur
fürs Reisen und fürs Fressen, nicht mehr für ihre Mätressen. Alte und
Sterbende, gebt Eure Rente und Euer Pflegegeld den Millionären , so
lindert ihr
deren seelische Qualen bei der Jagd nach Rendi-ten, Dividenden,
Tantiemen,
Honoraren und Repräsentationsfonds, die zur Erneuerung und Erweiterung
standesgemäßer Hofhaltungen immer noch nicht ausreichen.
2. Wenn die politisch Verantwortlichen sagen:
„Die
Kassen sind leer!“, kleben sie an der Er-scheinung und lügen, indem sie
diesen
Zustand als eine Art Naturereignis deuten. Wer sagt: „Sie sind leer
gemacht
worden“, erfasst das Wesen und sagt die Wahrheit, weil er die Sachla-ge
als
politisch bewusst und gewollt herbeigeführtes Resultat kennzeichnet.
3. Wer meint, es gibt mehr als 4 Millionen
Arbeitslose und 775 000
Millionäre, bleibt an der Oberfläche, am Schein haften. Wer aber
erkennt, es
gibt die einen, weil es die anderen gibt, erfasst
den Kern. Es gibt nicht steigende Aktienkurse dort und
soziale Einschnitte hier, son-dern es gibt das eine, weil es
das andere
gibt. Das ist das Ergebnis extremer Marktwirtschaft und des Verzichts
auf
jedwede gesellschaftspolitische Verteilungsgerechtigkeit.
4. Der Unternehmerverband Metall verfolgte
bei der
jüngsten Tarifrunde Anfang des Jahres 2004, also beim Kampf um den
privaten
Anteil am gesellschaftlich erarbeiteten Reichtum das Hauptziel : 5
unbezahlte
zusätzliche Arbeitsstunden. Die Gewerkschaft setzte dagegen auf ih-ren
Platz 1
das Eintreten für „einen gesetzlichen Mindestlohn,der zum Leben reicht“.Warum
? Auf Platz 1 hätte der Nachweis gehört, dass 30 Stunden
Arbeitszeit bei
vollem Lohnausgleich immer noch genügend Profit abwerfen und 5
unbezahlte
Stunden Mehrarbeit einer Lohnkür-zung von 14,3 % entsprechen.[ 35 h =
100% ]
Dass genau diese Forderung nicht erhoben wur-de, zeigt m.E. auch die
Gewerkschaftsspitzen glauben, die Unternehmen leiden unter angeb-lich
zu hohen
Lohn- und Lohnnebenkosten. Zugespitzt wirft das die Frage auf: Sind
Unter-nehmer erst dann zufrieden, wenn Löhne (und Steuern!) bei Null
liegen?
Oder sind die jetzt schon gezahlten Lohnzuschüsse, Subventionen,
Fördermittel
aller Art der erste Schritt dazu, dass sie erst zufrieden sind, wenn
sie daraus
alle Löhne und Steuern zahlen können ?
5. Die Regierung sagt, Arbeitslosen- und
Sozialhilfe
legen wir zusammen, so werden wir die Leute zur Arbeit antreiben und
zugleich
den Staatshaushalt sanieren. In Wirklichkeit geht es darum, die Leute
klein zu
halten und Geld für Kriege und für Subventionen an Großkonzerne zu
haben. (Nebenbei
und hier nicht weiter ausführbar : Militärische Kriege nach außen und
so-ziale
Krieg nach innen gehören zusammen, bedingen einander.)
6. Unternehmerverbandsbosse sagen:
Deutschland liegt
darnieder, weil : zuviel Sozialstaat, zuviel Lohn, zuviel
gewerkschaftliche
Rechte. Wahr ist hingegen: Deutschland liegt darnie-der, weil : zuviel
Repression gegen die da unten, zuviel privater Reichtum, zu wenig
Steuern von
denen da oben; weil die Mächtigen und die Regierenden sozialpolitisch
konterrevolutio-när handeln, um ihre fetten Konten zu retten; weil es
zu viele
gibt, die arbeiten und gerade (noch) ihr Leben fristen können und zu
viele , die nicht arbeiten, aber prassen.
Ein grundsätzliches Wort noch zur
vermeintlichen
Alternativlosigkeit. Politiker und Medien werden nicht müde, zu
behaupten, dass
ihre Vorhaben zur Zerschlagung des Sozialstaates al-ternativlos seien.
Mit
dieser These soll verhindert werden, dass glaubwürdig und überzeugend
über das
Bestehende hinaus gedacht wird. Der Satz von der Alternativlosigkeit
wird
benötigt , um für Einschnitte ins Leben
von Millionen die millionenfache Akzeptanz der Betroffenen zu erzeugen
und die
überdurchschnittlich Reichen (Privatpersonen und Konzerne) weiterhin
zur
Gestaltung des Gemeinwohls nicht heranzuziehen. Nur die jeweils
Herrschenden
begründen das Lügengespinst von der angeblichen Alternativlosigkeit.
Darin
steckte das Elend beim Zu-grunderichten der DDR und darin steckt die
Misere der
Bundesrepublik. So wurde und wird durch die Regierenden das
Gesellschaftliche
entpolitisiert, die Regierten sind nicht Beteiligte, sondern Zuschauer
und das
die Gesellschaft zusammenhaltende innere Band wird spröde und brüchig.
Eine Gegenöffentlichkeit muss darum deutlich machen
: Die Lüge, diese oder jene politische Entscheidung sei alternativlos,
dient
lediglich der Befriedigung privater Interessen mittels Amtsgewalt.
Diese Lüge
begünstigt die Ausnutzung von Macht und Reichtum zur persönli-chen
Vorteilsnahme. Diese Lüge zeigt: die Verlockung der Macht ist größer
als der Ansporn
der Vernunft zu Mitmenschlichkeit! Ehrliche Politiker und korrekte
Wirtschaftskapitäne sind deshalb heute so selten wie schlanke
Sumo-Ringer.
Medien
werden beim Transport und bei der Inszenierung dieser und anderer LÜGEN
zum
wichtigsten Scharnier zwischen Kapital und Politik auf der einen Seite
und
Objekten dieser Entscheidungen auf der anderen Seite. Katastrophale
Folgen
werden in Erfolgsberichte um-gelogen, jüngste Belege sind die Maut und
das
Dosenpfand . Brisant für uns , die wir an Ge-genöffentlichkeit
interessiert
sind, ist die in breiten Kreisen der Bevölkerung nicht zu überse-hende
Wirkung
: Wer in der uns vorgegaukelten Wirklichkeit zu Hause ist, (und das
sind
Mil-lionen!) kann , soll und wird seine eigenen Erfahrungen nur als
isoliertes
Individuum verar-beiten, kann und soll nicht mehr sozial lernen.
Neoliberal durchtränkte Medienöffentlichkeit zerstört gesellschaftliche
Kommunikationsmöglichkeiten und so soziales Lernen.
Manipulation
wirkt so : Die Leute sollen nichts durchschauen, aber alles mitmachen.
Die
ef-fektivste Manipulationsmethode ist offensichtlich die
Kommerzialisierung
aller Lebensberei-che bis in den privatesten Winkel des Körpers hinein.
Kommerzialisierte Medien, d.h. me-dialer Kommerz, legen einen
neoliberalen
Verblendungsschleier über das Alltagsbewußtsein und verhindern so, die
Wirklichkeit adäquat zu erfassen.
Manipulation zu entlarven hat dann auch eine
personale Komponente: Die, die lange genug die Wörter missbrauchen,
können
damit die Wahrheit nicht mehr sagen.
Manipulation soll vergessen machen, dass das
Wesen
unserer Gesellschaft mit vier unum-gänglichen Begriffen hinreichend exakt benannt ist :
Profitgeilheit,
Kriegslüsternheit,
soziale Kälte, Massenverblödungsindustrie.
Für
Gegenöffentlichkeit sind das zugleich die zentralen Punkte ihrer
Selbstkonstituierung.
An Gegenöffentlichkeit Interessierte sind gefordert, über die für
das Begreifen der Realität un-entbehrlichen Begriffe zu verfügen. Sonst
bleibt
es bei dem durch die neoliberale Vergiftung der veröffentlichten
Meinung
bewirkten Realitätsverlust , der stets zu geistiger
Orientierungs-losigkeit und
in der Folge zum Verlust der Problemlösungsfähigkeit führt.
Zur zweiten Frage:
Wie schaffen
wir es , nicht den politischen und geistigen Vorgaben der Mächtigen und
Regie-renden
hinterherzulaufen, nicht die falschen Fragen der anderen zu beantworten
?
Dreh- und Angelpunkt ist m.E. die Aufgabe,
ein
eigenes Projekt der Lebens-Weise zu kreie-ren , bei dem wir ganz klar
die
neoliberale Logik verlassen und über das gegenwärtig Beste-hende hinaus
denken
. Ein Projekt also, das über die Marktwirtschaft hinaus weist. Ein
Mo-dell, das
wegführt von der betriebswirtschaftlichen „Standort-Logik“ und hinführt
zu
einer Logik des Lebens-Ortes für heutige und künftige Generationen. Ein
Projekt, das nicht aus-schließlich und gleich gar nicht zuerst fragt „Rechnet sich das ?“, sondern als
Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen fragt: „Wie wollen wir in
Deutschland
leben?“
Unverzichtbar dafür ist es zuerst, die Agenda
2010
grundsätzlich und im einzelnen abzuleh-nen. Sie ist wie AIDS – sie
zerstört (
kulturelle und soziale) Immunkräfte des einzelnen und der Gesellschaft.
Im folgenden möchte ich ein paar Eckpfeiler
nennen,
um die ein solches Lebensweise-Projekt sich ranken könnte. Und erneut
muss es
ein wenig theoretisch und abstrakt logisch werden.
Versteht
man Kapitalismus und kapitalistische Medienöffentlichkeit logisch als
Position,
dann muss man zuerst feststellen, zu beiden gibt es eine Vielzahl von
Negationen. Aus der Vielfalt der möglichen, unbestimmten Negationen muß
man die
bestimmte Negation heraus filtern, in-dem man die bestimmte
Position
des Kapitalismus sucht . Das ist – das sind wir uns sicher einig – das
Privateigentum an den Produktionsmitteln.
Für
den Kapitalismus allgemein folgt daraus der Kampf zwischen
Kapital und Arbeit, für die Medienöffentlichkeit
erscheint er als Widerspruch zwischen juristisch-moralischem Kodex der
Öffentlichkeitsarbeiter und dem Kampf um die Quote, als Gegensatz von
Information und Manipulation, von Bildung und Verblödung, von Kultur
und
Verrohung, letztlich – und da sind wir bei Rosa Luxemburg – als
Alternative
zwischen Zivilisation und Barbarei.
Es kommt also auch für die
Gegenöffentlichkeit
darauf an, die Profitlogik als bestimmendes Moment der
gesellschaftlichen
Entwicklung außer Kraft zu setzen. Soll es besser werden, ist ein Bruch
mit der
Logik des Irrsinns notwendig.
Dazu wiederum ist es erforderlich, die
Interessen
der abhängig Beschäftigten und anderer be-nachteiligter Gruppen zu
artikulieren,
einen volksverbundenen Antikapitalismus auszuarbei-ten , um den so
genannten
„kleinen Leuten“, den Ausgebeuteten, Ausgegrenzten und Ernie-drigten
eine
Identifikationsgrundlage und Perspektive zu geben.
Nur so sind m.E. im Kampf um die
veröffentlichte
Meinung langfristig Kräfteverhältnisse zu verschieben.
Von Brecht kennen wir den Hinweis : Notwendig
ist
eine Operieren-können mit Antinomien. Das erfordert z.B., den
politischen
Gegner unter dem Blickwinkel seiner Widersprüche darzu-stellen, nicht
als
monolithischen Block und nicht als logisch-überzeugend argumentierend .
Und das
bedingt, uns selber nicht als Opfer der Agenda 2010, sondern als
mögliche
Akteure der Veränderung zu verstehen. Politisches Philosophieren wird
durch
derartige Gegensätze besonders herausgefordert: Es kann herausfinden,
in
welchen Formen grundlegende und nicht vermittelbare Konflikte auf eine
möglichst wenig destruktive Weise ausgetragen werden kön-nen. Das
schließt
zwingend die Frage nach strukturellen Veränderungen ein.
Unverzichtbar ist ferner, dass wir klare,
einfache
und gerade deshalb wahre Antworten aus-sprechen. Z.B. auf die Frage:
Wessen
Leistung hält die Volkswirtschaft im Gang ? Essers, Weltekes,
Ackermanns ? Eine
Antwort könnte lauten : Wir produzieren den Reichtum des Landes
alleine, wir
können ihn auch selbständig verwalten! Abzockende Chefs brauchen wir
nicht.
Eine andere Antwort könnte lauten: Sozialraub fällt den
Verantwortlichen aus
zwei Gründen leicht: zum einen nehmen sie es großen
Menschenmassen (von
jedem der mehr als 4 Millionen Arbeitslosen jeden Monat 10 €
abgeknappst sind
schon 40 Millionen €, im Jahr 480 Millionen €; jedem der etwa 22
Millionen
Rentner...; jedem der etwa 38 Millionen sozialver-sicherungspflichtig
Beschäftigten ...>> aber rechnen Sie selbst!!). Zum anderen braucht in den höheren und höchsten
Gehaltsklassen niemand unter dieser Politik zu leiden.
Solche Antworten wirken als Gegengift zu den
Illusionen über den Kapitalismus, seine Refor-mierbarkeit und
Vermenschlichung
. Sie können erhellen , das der Sozialstaat nie Gegensatz zum
Markt,
sondern immer ein Zusatz war. Der Sozialstaat ist eine dem
Kapital
integrierte, von ihm gesponserte, zeitlich und räumlich begrenzte
Besonderheit.
Nie war er das Ziel ge-sellschaftlicher Entwicklungen. Er war stets nur
ein
Mittel, auf dass man jetzt verzichtet. Sozialpartnerschaft – das war
gestern
die typische Form der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit;
heute
steht die Zerstörung des Sozialstaates auf der Tagesordnung. Und morgen
? Mehr
Gerechtigkeit, mehr Friedlichkeit, mehr Menschlichkeit (auch in den
Me-dien!) oder
Krieg nach innen und außen, Barbarei, Armut und Elend (auch in den
Medien!).
Die klare , einfache Kennzeichnung der
wesentlichen
Alternativen wirkt zugleich als Impuls für das Nachdenken über die
Fragen: Wie
wollen wir in Deutschland im 21. Jahrhundert le-ben? Welche Elemente
könnten /
sollten das Lebensweise-Projekt , das über die Marktwirt-schaft hinaus
weist,
charakterisieren?
Natürlich habe ich keine erschöpfenden
Antworten
darauf. Aber ein paar Denkanstöße möch-te ich in 9 Punkten gerne
formulieren.
1.
Es gibt viele Vorformen
dessen, was im Sinne der Durchsetzung von Interessen m.E. der
Konstituierung
einer Gegenöffentlichkeit
nützlich ist , z.B. Formen des studentischen Wider-stands in Berlin
und anderswo um den Jahreswechsel 2003/ 04 ; das kollektive
Schwarzfah-ren, die
Aktion „Kippen wir den Haushalt!! – auch wenn sie (noch!) erfolglos
war! Eine
Fundgrube für die Schaffung von wirksamer Gegenöffentlichkeit sehe ich
in der
Frage: Welche der widerständigen Aktionsformen sind kollektivierbar,
wie sind
sie politisierbar und was kann man von einem gesellschaftlichehn
Bereich in
einen anderen transformieren ?
2.
Es steht ja für uns
Gegenöffentlichkeits-Aktivisten überhaupt nicht die Frage, ob
Reformen
notwendig sind. Sehr wohl und sehr radikal steht aber die Frage, nach
welchen
Prinzipien sie vollzogen werden, wessen Interessen von der Politik
anerkannt
und realisiert werden. Lösungen für die wirklich notwendigen Reformen
liegen
nicht in der Logik der „Standort Deutschland AG“, sondern – um im Bilde
zu
bleiben – in der Logik des „Lebens-Ortes Bun-desrepublik“. Lösungen für
die
gewiß erforderlichen Reformen – auch im Arbeitsmarkt, bei Rente,
Steuern und
Gesundheit – liegen nicht in der Logik
betriebswirtschaftlich-finanziellen
Kalküls, sondern im Disput um eine politische Gesellschaftskonzeption
.Dabei
ist ein solches Anspruchs- und Maßstabsdenken zu fördern, dass die
Zumutungen
kapitalistischer Politik, kapitalistischer Medienöffentlichkeit
zurückweist.
Es ist z.B. als soziale Schande anzuprangern
und
herauszuschreien , dass das Riesenvermögen der Gesellschaft an
Intellekt ,
Phantasie, Kreativität, Verantwortungsbewusstsein und Geld fast
ausschließlich
in der Sphäre des Ökonomischen zutage trat und tritt und aus der des
So-zialen
immer vollständiger eliminiert wird und werden soll.
3.
Tabulos und phantasievoll
müssen wir sein, wenn wir Gegenöffentlichkeit gegen Wider-stände
durchsetzen
wollen. Also kann z.B. die Verfügungsgewalt über große und strategische
Produktionsmittel nicht länger ein Tabu sein ! Fragen wir uns doch mal
ernsthaft :Was ist noch Tabu im Kapitalismus, was ist ein Tabu in der
großen
Gemengelage der veröffentlichten Meinung ? Hier sind Ansatzpunkt für
viele
Ideen und Initiativen zur Schaffung von Gegen-öffentlichkeit !
Tabulos und phantasievoll fordern und
realisieren
sollten wir z.B. ernsthaft instandbesetzte Betriebe. Bei den vielen
Subventionen, die die Konzerne seit Jahrzehnten einstreichen, sind die
doch
schon längst volkseigene Betriebe! Nehmen wir sie also in die eigene
Verantwor-tung und besser als es zu DDR-Zeiten geschah!!
Fordern wir eine radikale Senkung der
Arbeitszeiten
ohne jede Lohnsenkung. ( Nach einer Modellrechnung des Statistischen
Bundesamtes müsste angesichts der vorhandenen Arbeits-produktivität
theoretisch
jeder Mensch im erwerbsfähigen Alter nur noch zwei Stunden
Er-werbsarbeit
leisten. Die Entwicklung dorthin wird lediglich verhindert durch die
existierenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse.
Fordern wir tabulos und phantasievoll, dass
sich die
Arbeits- und Sozialeinkommen parallel zur Produktivitäts- und
Preisentwicklung
bewegen. Kämpfen wir um eine stärkere Besteu-erung des parasitären
Reichtums,
um die Finanzgrundlagen staatlichen Handelns zu stärken.
4.
Wir sollten radikal die
Einhaltung des Grundgesetzes und der Menschenrechte zu fordern ! Die
Wirklichkeit ist doch an vielen Stellen ein Hohn auf das Grundgesetz!
Die
Agenda 2010 verstößt in mehrfacher Weise gegen das Grundgesetz. Mit ihr
entsteht eine andere Bundesre-publik als die, die im Grundgesetz
definiert ist.
Die für diese Realität Verantwortlichen gehö-ren deshalb – das könnte
eine
weitere Forderung sein - in die
Aufmerksamkeit des Verfas-sungsschutzes, jedenfalls, wenn der seine
Aufgabe
ernst nimmt.
Gegenöffentlichkeit muss zugleich begründen und
dafür aktivieren, dass Menschen ihr Grund-recht auf Widerstand
wahrnehmen. Im
Grundgesetz , Art. 20 (1) heißt es : „Die Bundesrepu-blik Deutschland
ist ein
demokratischer und sozialer Bundesstaat.“ Die Agenda 2010 setzt
insbesondere
mit Hartz I- IV und mit der so genannten Gesundheitsreform beide
Bestimmun-gen außer Kraft.
Gegenöffentlichkeit ist deshalb gehalten, auf
Art 20
(4) zu orientieren: Dort heißt es: „ Gegen jeden, der es unternimmt,
diese
Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand,
wenn
andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Protest ist, wenn ich deutlich sage,
das und
das ist nicht richtig. Widerstand ist, wenn ich mich dafür engagiere,
dass das,
was nicht richtig ist, nicht länger geschieht.
Gegenöffentlichkeit muss nachdrücklich fragen,
ob es im Bundestag und in den Länderparla-menten noch Sensibilität für
die
Erfordernisse des Grundgesetzes existiert oder ob die
Parla-mentsparteien
„grundgesetztaub“ (oder zumindest –schwerhörig) geworden sind.
Prinzipiell muss deshalb gefordert werden:
Das
Grundgesetz muss als Orientierungshinweis, als Wegweiser und Maßstab
weiterhin
gelten ! Konkret ist z.B. einzufordern, dass die „staat-liche Gewalt“
ihre
Pflicht, die Würde des Menschen zu schützen (Art. 1 GG) auch gegenüber
den
Millionen Arbeitslosen erfüllt ! Konkret ist einzufordern , dass das
Recht auf
gleichen Lohn für gleiche Arbeit
(zwischen Männern und Frauen, zwischen West und Ost z.B.)
end-lich
umfassend realisiert wird ! Konkret ist einzufordern , dass die
staatliche
Gewalt in der Bundesrepublik so arbeitet, dass alle Bürgerinnen und
Bürger
tatsächlich in den Genuss der für ihre Würde und die freie Entwicklung
ihrer
Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftli-chen, sozialen und
kulturellen
Rechte gelangen !
„Von der Verwirklichung der Menschenrechte“ –
so
heißt es in der Denkschrift der beiden großen christlichen Kirchen in
der
Bundesrepublik – „kann nur dann gesprochen werden, wenn die staatliche
Rechtsordnung
die elementaren Rechte jedes Menschen unabhängig von seinem Geschlecht,
seiner
Herkunft oder seinen individuellen Merkmalen schützt und diese Ordnung
von
allen Beteiligten anerkannt wird.“ (Für
eine Zukunft in Solidarität und Gerech-tigkeit, S.52
)]
5.
Dafür ist ein Wandel des
wirtschaftlichen Ordnungsrahmens (eher früher als später! )
un-umgänglich! Es
muss aufhören, Wirtschaftspolitik so zu verstehen und zu betreiben ,
dass für
bestimmte Interessen der Wirtschaft Politik gemacht wird ! Fordern wir
von der
Politik , zu sichern , dass wirtschaftliches Handeln sich an politisch
definierten Zielstellungen ausrichtet !
6.
Sicher muss man für das
Bewirken von Gegenöffentlichkeit die Formen massenhaften zivi-len
Ungehorsam
noch weiter entwickeln . Realistisch ist z.B. die Aufforderung : „
Bildet
Ar-beitslosenräte!“ Das könnte ein Weg dahin sein, die Beziehungen
zwischen
Arbeitslosen und Vermittlern zu demokratisieren, die Vorstellung,
Bestrafung
von Arbeitslosen sei ein Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu
beseitigen
und überhaupt die Vorstellungen von nützli-cher Arbeit von ihrem
betriebswirtschaftlichen Ballast zu entrümpeln. Es geht um die
Durch-setzung
sozialer Menschenrechte! Auf dem Arbeitsamt wird man nämlich genau zu
der
Num-mer, die der Billet-Automat ausspuckt. Beim Gong wird jeder zum
Pawlowschen
Hund und guckt reflexartig zur Anzeige, ob man als Nummer schon
aufgerufen
wird.
Realistisch wäre auch: Investitionen werden
gesellschaftlich angeeignet. D.h. nicht mehr der Unternehmer allein
entscheidet,
weil er nur den Profit sieht. Notwendig ist es, das Profitinter-esse
mit den
gesellschaftlichen Bedürfnissen zusammenzubringen. Die Losung : „Profit
pro-duzieren - JA, aber Verwendung demokratisch entscheiden!“ könnte
nicht nur
ein Teilschritt zu einer sozialisierten Ökonomie , sondern auch zu
einer
wirksamen Gegenöffentlichkeit sein.
7.
Wir dürfen keine Spaltung
zwischen Gewerkschaftsmitgliedern (Arbeit Habenden) und Ar-beitslosen
und
Sozialhilfeempfängern zulassen, sondern müssen alles für den
Zusammenhalt der
Abhängigen tun, Solidarität und Gemeinsamkeiten herstellen und betonen.
Denn
:An Min-derheiten wird heute vorexerziert, was morgen allen droht. Das
zeigt
der Osten allgemein, das zeigt die Strategie zur Ausdehnung von
Niedriglöhnen
im besonderen, das zeigen die Schlie-ßung von Orchestern da und
Jugendklubs
dort im einzelnen.]
8.
Unbedingt verhindern müssen
wir die weitere Privatisierung der Alltagsbedürfnisse (Bil-dung,
Gesundheit,
Alterssicherung etc.) Die hier zutage tretende Ausweitung der Kontrolle
des
Kapitals aufs individuelle Leben ist praktische Dehumanisierung. Heute
gilt
schon wieder die These, die ich von meiner Großmutter hörte und die in
der DDR
unvorstellbar war : weil Du arm bist, mußt du früher sterben.]
9.
Interessant und wichtig
wäre ein Initiative „Werbung raus aus TV-Sendungen!“ .Sollten wir nicht
ernsthaft darüber nachdenken , einen kollektiven Boykott z.B. der
Gebühren fürs
Fernsehen zur organisieren, damit Werbeblöcke wieder aus den Filmen
rauskommen
und nur noch nach dem Ende der einen und vor Beginn des anderen
Programmteils
stattfinden ? Soll-ten wir nicht ernsthaft versuchen, die Gebühren, von
denen,
die genau das wollen für die Schaffung eines „GEGEN-TV“ zu verwenden ?
Aus
meiner Sicht wäre das ein konkreter Ver-such sozialer Aneignung als
praktisch-politisch Gegenpol zur alltäglichen Entfremdung
Zusammenfassend meine ich :
1.)
Es ist heute möglich und notwendig, Alternativen jenseits von
Profitgeilheit,
Kriegslü-sternheit, sozialer Kälte, Massenverblödungsindustrie zu
suchen.
Inhaltlich sollten die Initia-tiven für Gegenöffentlichkeit verknüpft
sein mit
Alternativen zu Ausbeutung und Entfrem-dung. Dem einen wie dem anderen
stehen
lediglich die Interessen einer gesellschaftlichen Minderheit von
Profitorientierten im Wege .
Fordern wir tabulos und phantasievoll die
Einhaltung
und Gewährleistung der Bürger- und sozialen Menschenrechte auf ein
Leben, dass
die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben si-chert. Möglich ist das
durch eine
solidarische Ökonomie und politische Vorgaben an die Wirtschaft.
Nur solche und andere basisdemokratische
Ansätze
können und werden die kapitalistische Experten- und
Stellvertreterpolitik im
allgemeinen und in der veröffentlichten Meinung im besonderen
überwinden. Denn
die ist immer wieder nur der Türöffner für die so genannte Realpolitik
mit
ihren vielgerühmten „Sachzwängen“.
2) Die Mächtigen und Regierenden fordern mit
Hilfe
der Medienöffentlichkeit dazu auf, bei Wahlen
die Stimme abzugeben. Gegenöffentlichkeit wird dann wirklich, wenn wir dazu
auf-fordern , die eigene Stimme zu erheben, sich die sozialen
Verhältnisse
praktisch-gegenständ-lich anzueignen und so zu vermenschlichen.
Das ist ein
politischer und strategischer Unterschied.
Und die manipulierende veröffentlichte
Meinung will und
muß genau den verhindern ! Notwendig , nicht zufällig ! Vorsätzlich,
nicht
versehentlich !
Wer Gegenöffentlichkeit will, der muss alles
stärken, was Selbstbestimmung, Selbsthilfe, Selbstpolitisierung dient .
Klar ist bei all den Gedanken, eine
Gegenöffentlichkeit
zu konstituieren und wirksam zu ma-chen natürlich eines: Alle
alternativen
Varianten, alle möglichen Kampfformen, alle mögli-chen Teilschritte können nicht bis ins letzte Detail rein
theoretisch formuliert werden. Sie entwickeln sich in realen Kämpfen.
Schluß
„Wehret den Anfängen“ – das geht nicht mehr !
Sie
sind schon beängstigend weit vorange-kommen. „Schluß mit dieser ganzen
Richtung!“ – muss es deshalb heißen. Nur anders kann es besser werden!
Vernünftige Antworten auf die Fragen der Zeit
gehen
derzeit den Herrschenden verloren. Das könnte eine Zeit für die
Beherrschten
werden, die richtigen Fragen zu stellen.
Das Maß unserer Kritik am Kapitalismus und
das
Verändern der Gesellschaft durch die neo-liberale Glaubenslehre müssen
sich
zueinander verhalten wie kommunizierende Röhren, wenn aus der
Notwendigkeit und
Möglichkeit einer Gegenöffentlichkeit eine Wirklichkeit werden soll.
An Gegenöffentlichkeit Interessierte müssen
raustreten aus den Schatten der Sachzwänge und rein in die deutliche
benannte
Klarheit dessen, was wirklich passiert! Selbst-Täuschung ist ei-ne
wirkungsvoll-schlimme Bremse für die Konstituierung von
Gegenöffentlichkeit.
Eine Wahrheit bleibt auch dann eine Wahrheit,
wenn
noch viele blind sind, sie zu erkennen. Wer Trugbilder für Abbilder
nimmt und
ihnen folgt, lebt eigentlich wie im
Schlafe. Unange-nehme Wahrheiten haben zwei wesentliche Merkmale : sie
sind
unangenehm und sie sind wahr. Allerdings : Ausgesprochene Wahrheiten
werfen
hässliche Schatten. Lügen verbreiten schönen Schein.
Dies bedenkend gilt: Gegenöffentlichkeit
entsteht -
wenn überhaupt - durch Suche, also durch Zweifel, d.h. durch das für
möglich
gehaltene Gegenteil von dem , was ist, durch das Hinaus-denken über das
Bestehende.
An Gegenöffentlichkeit Interessierte können dabei optimistisch sein. Denn : Macht
ist nie ab-solut und total ! Auch der mächtigste Herrscher und Sieger
bleibt
stets mit einem Restchen Ohnmacht gefesselt an ein Restchen Macht des
Beherrschten
und Besiegten.
An Gegenöffentlichkeit Interessierte können ein Belächeln oder Verlachen durchaus
gelassen hinnehmen. Neues widerspricht stets der herrschenden
Denkweise. Die
herrschenden Gedan-ken sind doch bloß die Gedanken der Herrschenden.
Neues wird
deshalb als Anomalie, seine Anhänger nicht selten als arme Irre
bewertet. Das
war u.a. beim Atommodell von Rutherford ebenso wie beim Weltbild des
Kopernikus. Das war so bei der Entdeckung des Doppelcharak-ters der
Ware
und es ist so bei
philosophisch-strategischen
Impulsen für eine qualitativ neue Medienöffentlichkeit.
So gesehen, sollten unsere nächsten
politischen
Taten nicht so sehr auf einem Politikverständ-nis als „Kunst des
Möglichen“
beruhen, sondern eher als „Kunst der Ermöglichung und Ver-wirklichung
des
Notwendigen“ praktiziert werden.
Wenn wir für die Schaffung einer
Gegenöffentlichkeit
radikal politisch denken, dann stehen wir vor einem doppelten Auftrag :
Zum
einen müssen wir zeigen, dass wir uns - als Menschen und politische
Subjekte
jetzt und hier - darauf einlassen, uns zu den bestehenden
Verhältnis-sen
praktisch-politisch zu verhalten. Darunter verstehen ich zuerst, dass
unsere
radikal-kriti-sche Haltung sich nicht als illusorische Weltflucht
äußert.
Vielmehr suchen wir unermüdlich danach, was zu tun ist, um politisch
handlungsfähig
zu bleiben bzw. zu werden und nieder-drückene Umstände zu verändern.
Zum
anderen machen wir mit dem elementaren Gegensatz zu den herrschenden
Verhältnissen konsequent Ernst , weil nur so die Chance zu gewinnen
ist, aus
unübersehbaren Notwendigkeiten und durchaus vorhandenen Möglichkeiten
eine neue
Wirklichkeit zu gewinnen.
Wir müssen die
Menschen immer wieder ermutigen, zu erkennen, dass ihnen die
Verhältnisse, die
Strukturen keine freie Entscheidung über ein selbstbestimmtes Leben
lassen und
sie zu-gleich aber genau das haben wollen.
Was für die Ausbeutung allgemein gilt, das gilt auch für die Medienöffentlichkeit: Es gibt heute kaum noch ein personales Gegenüber ( „Krupp ist mein Ausbeuter“ / „Springer ist unser aller Verblöder“ – das war bekanntlich zu Lebzeiten der Herrn anders ! ) Daraus entsteht die schwierige Notwendigkeit : man muß gegen Strukturen vorgehen , was immer auch bedeutet, man muß abstrahieren!
Wenn das gelingt, keimt das
selbstpolitisierte
Individuum. Wenn das gelingt ,können wir Apathie in Antipathie und
Resignation
in Aktion transformieren. Die jetzt noch immer spür-bare Verdrossenheit
so
manches Zeitgenossen sollten wir nicht bemeckern, sondern als erste,
spontane,
primitive Reaktion auf die Qualität des Angebots sehen.
Gegenöffentlichkeit unter den obwaltenden
Bedingungen zu schaffen, das ist schwierig. Ich empfinde das aber nicht
als
Hemmnis, sondern als Ansporn.
Denn
Brecht sagt:
Das Sichere ist nicht
sicher.
So, wie es
ist,
bleibt es nicht.
Wer noch lebt,
sage nicht niemals!
Dr.phil.habil.Peter
Kroh
Rotbuchenring
23
17033
Neubrandenburg